2025
Dreiteilige online-Reihe „Männlichkeitskonzepte im Kontext von Gewalt gegen Frauen„

1. Toxische Männlichkeit
Mehr als 70 Teilnehmer*innen nahmen an der Veranstaltung teil, die vom Verband der Evangelischen Frauen in Hessen und Nassau, dem Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung der EKHN und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen) organisierten wurde.
Welche Vorstellungen von Männlichkeit begünstigen Gewalt gegen Frauen und schaden letztlich auch den Männern selbst, und welche Lösungsansätze zu deren Überwindung gibt es? Das waren Fragestellungen, denen der Diplom-Pädagoge Sebastian Tippe am 30.01.2025 im ersten Modul der dreiteiligen Online Reihe „Bruchlinien der Macht? Männlichkeit und Gewalt gegen Frauen“ nachging. Tippe arbeitet als Fachberater für Erziehungsstellen und bietet Workshops an Schulen und in der offenen Kinder- und Jugendarbeit mit dem Schwerpunkt feministische Jungenarbeit an. Er ist Autor des Buchs „Toxische Männlichkeit – Erkennen, reflektieren, verändern“.
Toxische Männlichkeit – was ist das eigentlich?
Sebastian Tippe definiert sie folgendermaßen: „Toxische Männlichkeit beschreibt problematische, sozialisationsbedingte Verhaltensweisen, Einstellungen, Denkmuster und Präsentationen von Jungen und Männern, mit denen sie vor allem Frauen (und anderen marginalisierten Menschen) Schaden zufügen, indem sie sie diskriminieren, ausgrenzen, benachteiligen, oder ihnen gegenüber übergriffig oder gewalttätig sind.“
Er identifiziert eine Vielzahl von typischen toxischen Verhaltensweisen von Männern im Alltag: wenn Männer Frauen permanent unterbrechen, ihnen die Welt erklären, oder Vorschläge von Frauen in Besprechungen zunächst ignoriert werden und erst anerkannt werden, wenn sie ein Mann wiederholt, sogenanntes „hepeating“. Benachteiligungen von Frauen aufgrund toxischer Männlichkeit sieht er außerdem in der der Aufteilung von Care-Arbeit oder im beruflichen Bereich bei Bewerbungsverfahren und Gehaltsunterschieden. Es geht auch um Phänomene wie sexistische Äußerungen, übermäßig raumgreifendes Verhalten in der Öffentlichkeit z.B. sogenanntes „manspreading“, übergriffiges grenzüberschreitendes Verhalten. Für extreme Ausmaße toxischer Männlichkeit stehen beispielsweise Prostitution, Stalking, häusliche Gewalt, die sogenannte Incel-Szene und Femizide.
Das toxische Verhalten schadet vor allem Frauen, aber auch allen Männern, die nicht weiß und heterosexuell sind. Und letztlich schadet es selbst diesen Männern. Denn Konkurrenz, Stress, aggressives Verhalten, Gewalt, ungesunde Ernährung, riskante Aktivitäten gefährden ihr physisches und psychisches Wohlbefinden.
Wie entsteht toxische Männlichkeit?
Noch immer werden laut Tippe bestimmte problematische Bilder von Männlichkeit und sozial konstruierte Zuschreibungen von Männlichkeit weiter transportiert. „Es verändert sich zwar ein Stück, aber die Stereotype sind weiter omnipräsent“. Die Ursachen finden sich für ihn überwiegend in der männlichen Sozialisation. In der Verantwortung sieht er hier neben den Eltern vor allem die Kitas und Schulen. Aber gerade hier fehlen den Kindern männliche Vorbilder, die ihnen ein differenziertes Bild von Männlichkeit transportieren. Wenn sich Jungen aggressiv verhalten, heißt es noch viel zu häufig: „Jungs sind halt so“. Problematische männliche Verhaltensweisen wie Konkurrenzdenken, Aggression und Gewalt würden kaum hinterfragt. Gefühle zu zeigen passe nicht zu diesem Bild von Männlichkeit. Aber natürlich hätten auch Jungen Gefühle, nur seien sie dauernd gezwungen, diese abzuspalten.
Ein Aspekt toxischer Männlichkeit taucht in unterschiedlichen Facetten auf: der Umgang mit Raum. Jungen lernen laut Tippe von Beginn an, sich Raum zu nehmen und anzueignen. Er macht dies am unterschiedlicher Bewegungsradius von Jungen und Mädchen deutlich. Zum Aspekt Raum gehört auch das Wahren und Akzeptieren von körperlichen Grenzen des Gegenübers: Wieviel Nähe ist meinem Gegenüber angenehm, wann bin ich übergriffig, was wird von Mädchen und Frauen als bedrohlich wahrgenommen? Um die Einnahme von Raum im übertragenen Sinn geht es Wortbeiträgen von Jungen und Männern. Wieviel Raum nehme ich mir bzw. überlasse ich anderen? Bin ich bereit, mich zurückzunehmen, zuzuhören und andere Meinungen anzunehmen? Das ist eine wichtige Problematik, mit der sich Sebastian Tippe in seinen Workshops mit männlichen Jugendlichen auseinandersetzt.
Ein weiteres zentrales Thema ist Sexualität – ein Bereich, über den viele Jugendliche nur sehr wenig wissen, der sie aber interessiert und worüber Gesprächsbedarf besteht. Kenntnisse über die weibliche Anatomie und sexuelle Bedürfnisse von Frauen sind nur sehr wenig vorhanden, oder es bestehen verzerrte Bilder, befördert vom allem durch pornografische Darstellungen, die Kinder und Jugendliche im Netz entdecken und oftmals auch untereinander weitergeben. Diese verzerrten Bilder bestehen bei Jungen und Mädchen gleichermaßen. Besonders durch pornografische Darstellungen im Internet werden Kinder und Jugendliche mit etwas konfrontiert, was sie weder sehen wollen noch richtig einordnen können. Mit der Verarbeitung dieser Inhalte müssen sie häufig alleine zurechtkommen, da die Nutzung oft heimlich geschieht.
Was müsste grundsätzlich passieren, um toxische Männlichkeit abzubauen?
Sebastian Tippe sieht als Voraussetzung für einen Veränderungsprozess, dass Männer bereit sind, anzuerkennen, dass es patriarchale gesellschaftliche Strukturen gibt, dass Frauen allein aufgrund ihres Frauseins benachteiligt werden, während Männer bestimmte Privilegien aufgrund ihres Mannseins haben. Frauen zuzuhören, ihre Lebenswelten anzuerkennen und nicht infrage stellen, und sich selbst einzugestehen, dass man sich oft selber problematisch verhält, sind für ihn weitere Grundvoraussetzungen. All das setzt eine große Reflexionsbereitschaft voraus, Haltungen zu hinterfragen, sich mit abgespaltenen Gefühlen auseinanderzusetzen, aber auch die Bereitschaft sich zurückzunehmen, Privilegien abzugeben und Mädchen und Frauen in der Sprache sichtbar zu machen und sich aktiv für die Gleichstellung einzusetzen und politisch aktiv zu werden.
Je früher dieses Nachdenken über die eigene geschlechtliche Identität einsetzt, desto besser. Und so überrascht es auch nicht, dass sich Tippes Arbeit vor allem auf die außerschulische Arbeit mit Jungen im Grundschulalter konzentriert. Für die anwesenden Teilnehmer*innen aus diesem Arbeitsfeld dürften die abschließenden Praxisbeispiele besonders wertvoll gewesen sein.
Aus der Praxis der geschlechtersensiblen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
Schon im Grundschulalter bestehen geschlechtsspezifische Vorstellungen bei Mädchen und Jungen, die beispielsweise „typische“ berufliche Tätigkeiten von Frauen und Männern betreffen. Diese Stereotype aufzubrechen ist das Anliegen eines Projekts, auf das Sebastian Tippe hinweist: „Inspiring the Future – Redrow the Balance
In seinen eigenen Workshops möchte Tippe Kinder und Jugendliche dazu befähigen, sich mit eigenen geschlechtsspezifischen Vorstellungen und Rollenbildern auseinanderzusetzen. Dabei geht es beispielsweise um Themen wie: männliche Körpersprache, die Akzeptanz von Grenzen, Nähe und Distanz oder das Sprechen über Emotionen. Tippe leistet mit seiner feministischen Jungenarbeit gewissermaßen Präventionsarbeit – damit es gar nicht zu toxischer Männlichkeit kommt. Männer im Erwachsenenalter für diese Arbeit an sich selbst zu gewinnen, sei überaus schwierig. Es setzt Bereitschaft zur Selbstreflexion voraus und kann immer nur freiwillig erfolgen. Sebastian Tippe kann allenfalls Impulse setzen. Umso wichtiger bleibt für ihn die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
Dr. Christiane Wessels, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, FB Erwachsenenbildung und Familienbildung
Franziska Wallenta, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen
Clara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.
2. Feminist Lab: in vier konkreten Schritten zum Verbündeten für Geschlechtergerechtigkeit und gegen Gewalt werden
„Wir leben in derselben Welt, aber wir erleben sie als Frauen und Männer sehr unterschiedlich.“ Das war vor ein paar Jahren die Erkenntnis von drei jungen Frauen und vier jungen Männern aus Deutschland, Schottland, Finnland und den USA, nachdem sie sich in einem Brainstorming über ihr Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit ausgetauscht hatten. Und das war gewissermaßen auch die Geburtsstunde des Autor*innenkollektivs „Feminist Lab“.
Etwa 50 Teilnehmer*innen hatten sich am 5. Februar zum zweiten Modul der Reihe „Bruchlinien der Macht? Männlichkeit und Gewalt gegen Frauen“, die vom Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau, dem Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familien Hessen (eaf hessen) organisiert wurde, online eingefunden. Der Referent des Abends war Martin Speer von Feminist Lab. Die Grundlage bildete das vom Kollektiv 2023 veröffentlichte „Das Buch, das jeder Mann lesen sollte“.
Wie ist Feminist Lab entstanden?
Die Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit wurde für sie quasi zum Aha-Erlebnis. Denn während sich die Männer auf abstrakte Antworten bezogen und mit Geschlechtergerechtigkeit vor allem gleiche Bezahlung, geschlechtergerechte Arbeitsteilung und Geschlechter-Quoten assoziierten, waren es bei den Frauen ganz konkrete alltägliche Erlebnisse, zum Beispiel die Forderung, sich überall angstfrei im öffentlichen Raum bewegen zu können. Das ist für viele Frauen alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Dies zeigen auch Daten aus der Bundeskriminalstatistik von 2022, die Martin Speer präsentierte. Demnach meidet jede zweite Frau „häufig“ oder „sehr oft“ bestimmte Straßen und Plätze und weicht Fremden nach Möglichkeit aus. Zwei Drittel fühlen sich nachts im ÖPNV unsicher und vermeiden es alleine zu fahren. 75 Prozent der befragten Frauen gaben an, schon einmal von einem Unbekannten auf der Straße verfolgt worden zu sein.
Wo beginnt eigentlich männliche Gewalt gegen Frauen?
Martin Speer benutzt hier eine Darstellung der Gewalt gegen Frauen in Form einer Pyramide, die auf die Künstlerin und Aktivistin Ashley Fairbanks zurückgeht. Gewalt gegen Frauen beginnt sehr früh. Der physischen Gewalt geht oft symbolische Gewalt voraus, zum Beispiel in Form von sexistischen Bemerkungen oder Witzen. Ein Femizid bildet die Spitze der Pyramide. Darum ist es so wichtig, ganz klar auch schon gegen diese symbolischen Gewaltformen Position zu beziehen. Starke sexistische Überzeugungen finden sich laut Speer bei 25 bis 30 Prozent der Männer. Festmachen lassen sich diese Überzeugungen an Äußerungen wie „Frauen gehören in die Küche“, „Frauen sind keine Führungskräfte“ oder beispielsweise „Frauen sind zu emotional“.
Wenn etwa ein Drittel aller Männer solche Überzeugungen teilen, sind das zwar sehr viele, aber das heißt positiv betrachtet auch, zwei Drittel der Männer könnten potentielle Verbündete für Frauen bzw. den Feminismus sein. Aber allzu oft wird die Existenz des Problems einfach verneint und die Gleichberechtigung von Frauen als schon erreicht angesehen. Typische Äußerungen sind: es werde doch nach Kompetenz und nicht nach Geschlecht bei Einstellungen entschieden, oder es bräuchte doch inzwischen eigentlich eine Männerförderung. Speer dazu: „Es gibt viele bequeme Ausreden, sich nicht mit Gleichberechtigung zu befassen“. Es gäbe gerade wichtigere Probleme, oder: „Da äußere ich mich lieber nicht, denn da kann man nur was Falsches sagen.“ Eine beliebte Ausweichstrategie ist auch die Delegation der Lösung des Problems an andere. Dann wird die Gleichberechtigung zum reinen Frauenthema oder zur Sache eines Diversity-Teams.
Männer als Verbündete gegen Gewalt
Es ist also ganz offensichtlich gar nicht so einfach, männliche Verbündete zu finden, die sich aktiv für mehr Geschlechtergerechtigkeit einsetzen und feministische Positionen vertreten. Dabei könnte eine feministischere Welt für alle Geschlechter so viel Positives bewirken. Denn eine feministische Welt sei friedlicher, feministisch orientierte Unternehmen seien erfolgreicher, Feminismus fördere die Gesundheit und feministische Beziehungen seien stabiler. Das ist die Überzeugung, für die Feminist Lab eintritt und wirbt.
Dazu müssten mehr Männer bereit sein, ihre Privilegien zu erkennen und zu nutzen, um Veränderungen herbeizuführen. Die Botschaft lautet: „Du kannst Teil der Lösung sein“. Hierzu benennt Feminist Lab vier konkrete Schritte, um zum besseren Verbündeten für Geschlechtergerechtigkeit und gegen Gewalt zu werden. Diese Schritte sind ein dauerhafter Prozess, das heißt es handelt sich um eine kreisförmige Bewegung, in der einzelne Schritte stets wiederholt werden.
Der erste Schritt ist das Zuhören. Er ist fundamental, um etwas über ein Problem zu erfahren, indem direkt Betroffene selbst erzählen. Der zweite Schritt ist das Lernen. Hier geht es darum, sich weiterzubilden, sich von der persönlichen auf die strukturelle Ebene zu bewegen, um letztlich tiefer zu verstehen. Der nächste Schritt ist dann das Reflektieren, indem man sich selbst in Beziehung setzt zur Problematik und somit eine Transferleistung erbringt. Den vierten Schritt bildet schließlich das Handeln. Feminismus lebt vom Handeln, dazu gehört die Würdigung der Geschichte des Feminismus.
Konkrete Aktionen
Das Autor*innenkollektiv Feminist Lab bleibt nicht bei dieser noch immer recht abstrakten Beschreibung eines Zyklus stehen, sondern benennt für den Bereich des Handelns 30 Aktionspunkten als sehr konkrete Ideen. Dazu gehören beispielsweise folgende:
folge Feministinnen auf sozialen Medien, höre feministische Podcasts, prangere sexistische Witze an, trainiere deine Fähigkeit zuzuhören, indem du Fragen stellst, suche dir Mentor*innen, die weiblich oder queer sind, engagiere dich in der Sorgearbeit, überprüfe dein Arbeitsumfeld und deine Rolle darin, bezahle deine Mitarbeiter*innen fair und nicht diskriminierend.
Viele der vorgeschlagenen Aktionen wenden sich nicht nur an Männer, sondern sind durchaus geeignet, auch die Solidarität unter Frauen und Mädchen, gerade hinsichtlich intersektionaler Erfahrungen, die etwa Frauen mit Behinderung oder mit Migrationshintergrund machen oder mit queeren Menschen noch zu verstärken. Wichtig ist es dem Feminist Lab, deutlich zu machen, dass es an der Zeit ist, dass Männer aufhören Teil des Problems zu sein und stattdessen Teil der Lösung werden.
Ihre Solidarität mit Frauen zeigen Martin Speer und sein Kollege Vincent-Immanuel Herr auch als sogenannte HeForShe Botschafter für UN Women Deutschland – eine globale Solidaritätsbewegung, die 2014 von UN Women gestartet wurde, um Männer und Jungen als Mitstreiter für die Gleichstellung der Geschlechter zu gewinnen. Diese Kampagne ermutigt Männer dazu, eine proaktive Rolle bei der Stärkung der Rechte von Frauen und dem Abbau schädlicher Stereotype und Normen zu übernehmen.
Vom Autorenduo Herr und Speer ist soeben erschienen: „Wenn die letzte Frau den Raum verlässt. Was Männer wirklich über Frauen denken“. In diesem Buch berichten die beiden Autoren zum einen, wie Männer unter sich über Quoten, Gender und Sexismus sprechen, zum anderen aber auch, wie Männer als Verbündete für mehr Geschlechtergerechtigkeit gewonnen werden können.
Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
Dr. Christiane Wessels, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, FB Erwachsenenbildung und Familienbildung
Franziska Wallenta, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen
Clara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.
3. Podiumsdiskussion – Partnerschaftsgewalt im Kontext vom Polizeidienst
Den Abschluss unserer Reihe „Bruchlinien der Macht? Männlichkeit und Gewalt gegen Frauen“ bildete am 24. Februar eine Podiumsdiskussion unter der Überschrift „Partnerschaftsgewalt im Kontext des Polizeidienstes“, die sich, schon allein aufgrund des anderen Formates, in der Ausrichtung etwas unterschied. Auf dem virtuellen Podium saßen drei Vertreterinnen der hessischen Polizei: die Gleichstellungsbeauftrage Kriminalhauptkommissarin Silke Nowakowsky, die Schutzfrau und damit Ansprechperson für Belange der Bürger*innen vor Ort, Oberkommissarin Sabine Willwoldt und Oberkommissarin Sibylle Swoboda, die als Sachbearbeiterin auf Fälle mit Partnerschaftsgewalt spezialisiert ist. Die Runde wurde durch die leitende Polizeipfarrerin der EKHN, Barbara Görich-Reinel, vervollständigt. Die Moderation hatte Christiane Wessels vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung der EKHN.
Gleichstellung und Ausbildung
Zunächst erhielten wir von Silke Nowakowsky einen Einblick in die Struktur der Polizei und die Situation für Frauen in der Behörde. Frauen machen ungefähr 30 Prozent der Polizeibeamt*innen in Hessen aus und sind in allen Bereichen vertreten, von der klassischen uniformierten Streife, über die Kriminalpolizei hin zu IT- oder Logistik-Abteilungen. Wie in vielen anderen Branchen stoßen sie jedoch spätestens dann auf Hürden, wenn es um eine Familiengründung und die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Viele Polizistinnen wechseln dann in Tätigkeitsbereiche ohne Schichtdienst und wer vor dem Erreichen des ersten Führungsamtes eine schwangerschaftsbedingte Auszeit nimmt, für die wird der Karriereaufstieg stark ausgebremst. Wie in vielen Berufen, werden auch bei der Polizei die Frauen weniger, je höher es in der Hierarchie geht, so hat es bisher in Hessen auch keine Frau in das Amt der Polizeipräsidentin geschafft. Die Position der Gleichstellungsbeauftragten ist jedoch ausdrücklich Frauen vorbehalten, solange es für sie strukturelle Benachteiligungen gibt.
Mit der Polizeiseelsorge überschneidet sich die Gleichstellung u.a. im Bereich der Ausbildung. Dort führen Silke Nowakowsky und Barbara Görich-Reinel gemeinsam Module zu sexueller Belästigung im Dienst durch und haben auch eine entsprechende Broschüre erstellt. Denn gerade in einem so hierarchisierten Umfeld, wie der Polizei, hat die Polizeiseelsorge auch eine wichtige Rolle als Ansprechperson, die eine Außenperspektive einnehmen kann. Sei es für Polizist*innen, die Übergriffe erlebt oder beobachtet haben, aber auch für Menschen außerhalb der Polizei, die Fehlverhalten von Polizist*innen ansprechen wollen, gerade auch in dem sensiblen Kontext Partnerschaftsgewalt.[1]
In der polizeilichen Ausbildung spielt partnerschaftliche Gewalt vor allem als Querschnittsthema eine Rolle und taucht in verschiedenen Bereichen auf, etwa wenn es um einsatztaktisches Handeln und Kommunikation in Eskalationssituationen geht, Gefahrenabwehr oder stereotypische Denkweisen. Hessen hat sich hinsichtlich der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt in den letzten Jahren durchaus positiv hervorgetan, so ist seit 2025 in Deutschland der Einsatz der so genannten „Spanischen Fußfessel“ möglich, was auf eine Initiative Hessens im Bundesrat zurück geht. Diese Fußfessel schlägt an, wenn sie in Reichweite eines GPS-Geräts kommt, dass die Person bei sich trägt, die das Annäherungsverbot erwirkt hat, so sind Betroffene geschützt, egal wo sie sich aufhalten.[2]
Polizeiarbeit vor Ort[3]
Während die Gleichstellungsbeauftragte vor allem auch in die Polizei hinein wirkt, stehen die Schutzfrauen und -männer vor Ort, aber auch die Sachbearbeiter*innen der konkreten Fälle, in engem Kontakt mit den Betroffenen. Dabei vermitteln sie auch viel zwischen polizeilichen Denkstrukturen und gesellschaftlichen Erwartungen. Wie gut das jeweils gelingt und wie versiert die einzelnen Beamt*innen im Umgang mit partnerschaftlicher Gewalt sind, ist sicherlich individuell unterschiedlich und auch abhängig von konkreten Spezialisierungen. Mit Sabine Willwoldt und Sibylle Swoboda hatten wir jedenfalls zwei Beamtinnen auf dem Podium, die sich in ihrer Arbeit leidenschaftlich für dieses Thema und die Betroffenen einsetzen.
Wenn wegen (Verdacht auf) Partnerschaftsgewalt die Polizei gerufen wird, egal ob von einer betroffenen Person oder Nachbar*innen, werden zunächst eine oder mehrere Streifen vorbeigeschickt. Sie nehmen die Situation vor Ort in Augenschein, sprechen mit den Beteiligten getrennt voneinander und sichern Beweise. Die Streifenpolizist*innen sind verpflichtet, den Vorfall zu dokumentieren und eine Anzeige aufzunehmen, die dann von einer*einem Sachbearbeiter*in bearbeitet werden. Innerhalb von drei Werktagen müssen von ihnen Staatsanwaltschaft und ggf. Jugendamt informiert werden. In akuten Situationen kann bereits vor Ort eine polizeiliche Verfügung ausgesprochen werden, um den Täter[4] für 14 Tage der Wohnung zu verweisen und den Gewaltbetroffenen Zeit zu geben sich zu beruhigen und ohne direkten Kontakt mit dem Partner nachzudenken und das weitere Vorgehen zu planen. Die Polizei kann diesen Platzverweis einmalig um weitere 14 Tage verlängern, danach braucht es Gerichtsentscheide für längerfristige Kontaktverbote oder Wohnungsverweise.
Ausgehend vom Bericht der Streifenpolizei treten Sachbearbeiter*in mit den Betroffenen in Kontakt, sie informieren über den weiteren Prozess, was passiert, wenn der Anzeige nachgegangen wird, aber auch, was es bedeutet, wenn die Betroffenen, was in vielen Fällen passiert, den Strafantrag zurückziehen und nicht wollen, dass der Partner bestraft wird. Auch das wird dann von der Polizei dokumentiert. Statistiken und Forschung zeigen, dass oft vier bis fünf Anläufe nötig sind, um sich aus einer gewaltvollen Beziehung zu befreien. Faktoren sind dabei wirtschaftliche, aber vor allem auch emotionale Abhängigkeit, die einer Suchterkrankung nicht unähnlich ist.
Während die Sachbearbeitung vorwiegend vom Schreibtisch aus stattfindet, hat eine Schutzfrau vor Ort auch die Möglichkeit Betroffene zuhause oder an einem anderen Ort, wo sie sich sicher fühlen, zu treffen. Ob sie dabei in Uniform oder in Zivil auftritt, wird jeweils nach Absprache entschieden. Anders als die im Notfall gerufene Streifenpolizei tritt sie allein auf und spricht ganz in Ruhe mit den Betroffenen, die dabei allein oder in Begleitung einer Vertrauensperson sind. Die Gespräche können also in einer vertrauten Umgebung geführt werden und auch ohne, dass sich die Betroffenen durch eine polizeiliche Übermacht eingeschüchtert fühlen. Denn aufgrund von Eskalationserfahrungen bei Einsätzen kommt es auch vor, dass mehr als eine Streife zu einem Notruf entsandt wird.
Umgang der Polizei mit Partnerschaftsgewalt
Polizist*innen werden im Dienst auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Voraussetzungen mit Partnerschaftsgewalt konfrontiert. Beamtinnen wie Sabine Willwoldt und Sibylle Swoboda, die langjährige Berufserfahrung in dem Bereich haben, verfügen über das nötige Rüstzeug sensibel mit den Betroffenen umzugehen und können auch ihrerseits belastende Situationen besser verarbeiten, weil sie das Wissen über die strukturellen Schwierigkeiten haben sich aus gewaltvollen Beziehungen zu lösen. Für Beamt*innen, denen diese Spezialisierung und Erfahrung fehlt, kann der Umgang und die Verarbeitung deutlich schwieriger sein. Da Polizist*innen es gewohnt sind, Vorfälle schnell dahingehend zu kategorisieren, ob sie einem Straftatbestand entsprechen und wenn ja, welchem, kann es zu Fehleinschätzungen hinsichtlich subtilerer Gewaltformen kommen, außerdem kann die persönliche Belastung durch das Sekundärerleben größer sein. Für die Verarbeitung stehen Polizist*innen eine Reihe von Angeboten zur Verfügung, neben der Polizeiseelsorge auch psychologische Beratungsstellen, Vertrauenspersonen oder Reflexionsräume. Die Sensibilisierung innerhalb der Polizei über das Strafrecht hinaus, besonders mit Blick auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist der Gleichstellungsbeauftragten Silke Nowakowsky ein besonders Anliegen.
Nachfragen aus dem Publikum
Zu den Fragen aus dem Publikum zählte unter anderem, wie damit umgegangen werden kann, wenn der Täter selbst Teil der Polizei ist. Alle Beteiligten des Abends sprachen sich vehement dafür aus, dass auch in solchen Fällen die Polizei informiert werden sollte. Wobei abseits von Notfällen auf Möglichkeiten alternativer Ansprechpersonen hingewiesen wurde. So kann zum Beispiel der Weg über die Polizeiseelsorge eingeschlagen werden, die der Schweigepflicht unterliegt und nicht verpflichtet ist direkt eine Anzeige zu stellen, oder die Gleichstellungsbeauftragte oder zuständige Polizeipräsidenten als übergeordnete Instanz angesprochen werden. Besonders Silke Nowakowsky betonte mehrfach, dass die Polizei auch nur gegen Fälle vorgehen und Unterstützung leisten kann, wenn sie darüber informiert ist und das gelte unabhängig vom Beruf des Täters.
Ein Punkt, der von der Moderatorin eingebracht wurde, und zu dem es viel Rückmeldungen aus dem Publikum gab, war die Zusammenarbeit der Polizei mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für Betroffene partnerschaftlicher Gewalt einsetzen: Beratungsstellen, Frauenhäuser, Frauennotrufe, Angebote zur Täterarbeit und ähnliches. Alle Polizistinnen auf dem Podium bestätigten, dass sie in ihren jeweiligen Bereichen eng, sowohl länderübergreifend mit anderen Polizeidienststellen als auch auf unterschiedlichen Ebenen mit den zivilgesellschaftlichen Gruppen in einem regelmäßigen Austausch stehen. Was auch von Teilnehmenden bestätigt wurde mit Blick auf ihre Zusammenarbeit als Engagierte vor Ort.
Deutliche Worte zum Abschluss
Zum Abschluss wurden die Podiumsteilnehmerinnen gebeten, aus ihrer jeweiligen Perspektive Stellschrauben zu benennen, die besonders wichtig wären, um geschlechtsspezifische Gewalt nachhaltig zu bekämpfen. Silke Nowakowsky wies darauf hin, dass Behörden, sowie die Gesellschaft insgesamt, in den letzten Jahren von Sexismus geradezu überspült würden. Die Novellierung des hessischen Gleichstellungsgesetzes im Jahr 2022 habe dieser Entwicklung nicht genug Rechnung getragen. Antifeminismus, der auch ein zentraler Teil rechtsextremistischer Strömungen sei, trage massiv dazu bei, die Gesellschaft zu spalten und bringe sie damit an ihre Grenzen. Deshalb sei es umso wichtiger, sich zu verbünden und in „das gleiche Horn [zu] blasen“.
Sibylle Swoboda sprach das Frauenbild und die Erwartungen an, mit denen viele sich konfrontiert sehen. Der Leistungsdruck, alles machen und schaffen zu müssen – Kinder, Arbeit, Beziehung, beste Freundin – führe ihrer Ansicht nach dazu, dass viele Frauen sich selbst zurückstellen und ihre eigenen Bedürfnisse und ihren Selbstwert vergessen, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, sich um alle anderen kümmern. Es müsste mehr dafür getan werden, Frauen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken. In eine ähnliche Richtung ging Sabine Willwoldt mit ihrer Forderung mehr Aufklärungsarbeit und Präventionsveranstaltungen anzubieten, damit jede Frau irgendwann den Mut und den richtigen Zeitpunkt finde, für sich einzustehen und sich zu erheben.
Barbara Görich-Reinel griff in ihrem Abschlussstatement den Fall Giséle Pèlicot und die Berichterstattung dazu auf, in der ihrer Meinung nach wichtige Punkte zur Sprache gekommen seien: etwa, dass eine Beziehung kein Besitzverhältnis und Männer nicht nur triebgesteuert seien. Wer meint, Liebe komme ohne Rücksicht auf die andere Person aus, sei erbärmlich, dieser Weg führe vom Patriarchat direkt in die Barbarei, weshalb es wichtig sei, dass alle in ihren jeweiligen Bereichen dagegenhalten.
Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
Dr. Christiane Wessels, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, FB Erwachsenenbildung und Familienbildung
Franziska Wallenta, Zentrum Bildung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen
Clara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.
[1] Auf Polizisten als Täter geht Asha Hedayati, Referentin im ersten Teil unserer Reihe, in ihrem Buch „Die Stille Gewalt. Wie der Staat Frauen alleinlässt“, 2023, S. 75f. ein.
[2] Das System und seine Anwendung werden sowohl in einer Pressemitteilung des hessischen Justizministeriums, als auch einem Beitrag der Hessenschau näher beschrieben.
[3] Die Informationen in diesem Abschnitt spiegeln vorrangig die Berichte der Podiumsteilnehmerinnen über ihre Arbeit wider, die Arbeitsweise, Angebote und Qualifikation hinsichtlich partnerschaftlicher Gewalt können regional unterschiedlich sein.
[4] Aufgrund der besseren Lesbarkeit haben wir uns entschieden bei Tätern das generische Maskulinum zu verwenden, da der überwiegende Anteil männlich ist. Der Männeranteil schwanken je nach Statistik zwischen 75 und 80 Prozent und schließen meist nur Fälle ein, die erfasst werden (Hellfeld).
2024
Backlash – neue Gewalt gegen Frauen
Gibt es eine neue Gewalt gegen Frauen? Diese Frage beantwortet die Journalistin und Buchautorin Susanne Kaiser auf einer Online Veranstaltung am 22.2.2024 ganz klar mit JA.
Mehr als 100 Teilnehmer*innen hatten sich eingefunden zu der vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN, der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen), dem Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau und dem Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt organisierten Veranstaltung. Die Teilnehmer*innen deckten das weite Spektrum der Institutionen ab, die mit der Thematik Gewalt gegen Frauen befasst sind: Frauenhäuser, Frauen- und Gleichstellungsbüros, Beratungsstellen, Mitarbeitende in der Familienbildung, frauenpolitische Initiativen und die Polizei.
Mit ihrer Veröffentlichung Backlash legt Susanne Kaiser eine sehr klare Analyse der Gewalt gegen Frauen vor. Um das Neue dieser Gewalt gegen Frauen zu verstehen, blickt Susanne Kaiser auf Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter insgesamt. Was sie wahrnimmt, beschreibt sie als eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite gibt es Erfolge von Frauen in Beruf und Politik und mehr Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit. Aber gleichzeitig gibt es wachsenden Hass und Gewalt gegen Frauen. Junge Frauen und Männer driften in ihren politischen Überzeugungen immer mehr auseinander, das zeigen weltweite Studien. Tendenziell wenden sich jungen Männer eher nach rechts, junge Frauen hingegen sind deutlich liberaler. Eine Soziologische Studie der Financial Times zeigt, dass die sogenannte Generation Z in ihren politischen Einstellungen zwischen den Geschlechtern sehr weit auseinander geht. Natürlich sind Generationen keine homogenen Blöcke, aber gerade in der Generation Z ist die Diskrepanz noch mal größer zwischen den Geschlechtern als in anderen Altersgruppen (dazu auch ein Kommentar von Antje Schrupp).
Patriarchale Gewalt als Reaktion auf den Machtverlust
Verändert haben sich die Gruppe der Betroffenen und die Formen von Gewalt. Höhere Bildungsabschlüsse, ökonomische und politische Erfolge schützen entgegen der landläufigen Meinung nicht vor Gewalt: Es sind gerade erfolgreiche Frauen, die besonders von Gewalt betroffen sind. Beispiele sind Annalena Baerbock, Ricarda Lang oder auch Dunja Hayali[1], die Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt sind, auch Claudia Neumann, die als Fußballkommentatorin eine „Männerdomäne“ besetzt.
Hier spielt die Frage des angenommenen Machtverlusts eine wichtige Rolle: „Wenn du privilegiert bist, dann fühlt sich Gleichberechtigung wie Unterdrückung an“ sagt die Autorin. Gewalt ist eine Reaktion auf den Machtverlust, den Männer allein durch den Diskurs um Gleichberechtigung und die Norm erleben. Durch das Internet haben Frauen und Minderheiten mehr Sichtbarkeit und ein Sprachrohr bekommen, was die Machtrolle und den Status von Männern bedroht. Im Bereich von Macht und Status stellt Gleichberechtigung für Männer tatsächlich einen Machtverlust dar, oder ist ein Nullsummenspiel, auch wenn sie in anderen Bereichen durchaus von Gleichberechtigung profitieren. Es sei, so Kaiser „das Problem mit der Norm, die nicht mehr so selbstverständlich männlich, weiß, cis, hetero ist, durch die Erosion entsteht ein Vakuum. Und das wird mit Gewalt gefüllt. Denn Diversität und Vielfalt kann per Definition keine Norm sein.“
„Das Internet ist ein Gamechanger, der die Sphären, in denen Gewalt stattfindet, miteinander koppelt“
Wie sich einige Männer in der Politik gegenüber Frauen verhalten oder wie Beziehungen zwischen den Geschlechtern im Netz dargestellt werden, all das hat einen starken Effekt auf den privaten Bereich. Die Ausübung von Gewalt, insbesondere körperliche Gewalt, wird zunehmend banalisiert, normalisiert und fließt ein in den Alltag und wirkt prägend vor allem bei Jugendlichen.
Radikales Gedankengut, zu dem Susanne Kaiser früher noch im Darknet und speziellen Incel[2]-Foren recherchiert hat, ist inzwischen in den Mainstream übergeschwappt. Radikalere Vorstellungen werden denkbarer, sagbarer und salonfähiger. In verschwörungsideologischen Zeiten ist Feminismus eine Projektionsfläche geworden für eine Verschwörung gegen die Gesellschaft. Der Feminismus verweichliche unsere Gesellschaft, trage bei zum sogenannten großen Austausch und letztlich dem Untergang der weißen Mehrheitsgesellschaft – so die Behauptung.
Drei Ziele neuer Gewalt gegen Frauen macht Susanne Kaiser aus: Kontrolle über Frauen aufrechterhalten oder zurückerlangen, Frauen auf ihren Körper reduzieren und Frauen verdrängen.
Für das Verdrängen aus dem öffentlichen Raum nennt Susanne Kaiser zwei sehr prägnante Beispiele: Das Frauenhaus ist ein wichtiger Schutzort für Frauen. Gleichzeitig ist es ein Fluchtort, der auf keinen Fall bekannt werden darf, um die Sicherheit nicht zu gefährden. Dadurch werden die Frauen anonymisiert und aus ihrem gewohnten Umfeld verdrängt, sie tragen die Konsequenzen, nicht der Täter. Oft bleibt damit auch die Gewalt, die sie erfahren haben, nicht sichtbar, so Susanne Kaiser.
Verdrängt werden Frauen auch im Netz. Um sich vor Hass und Hetze im Netz zu schützen, ziehen sie sich ganz zurück (vgl. Studie „Lauter Hass – leiser Rückzug“) oder beschränken sich auf das Segment, welches mit patriarchalen Geschlechterstereotypen konform ist und internet-aktiven Frauen zugewiesen wird: der Beauty- und Wellness-Bereich. Wieder einmal werden Frauen auf ihren Körper reduziert.
Die Kontrolle über den Körper der Frau wird nicht zuletzt auch über die Einschränkung der reproduktiven Selbstbestimmung ausgeübt. Aktuell zeigt sich dies in den USA, wo das von der Verfassung garantierte Abtreibungsrecht rückgängig gemacht wird. Reproduktion und Schwangerschaftsabbruch sind ein Thema in rechten Kreisen, mit der Zielsetzung über Biologismus, und die Betonung angeblich „natürlicher“ Aufgaben und Kompetenzen einen gesellschaftlichen Rollback zu erreichen.
Gewalt gegen Frauen als ein Angriff auf die Demokratie
Was ist zu tun, um diese Dynamik, diesen Backlash zu durchbrechen? Kaiser geht davon aus, dass wir noch viel mehr gute Analysen zum Thema Geschlechterverhältnisse und Geschlechterdifferenzen brauchen, um zu verstehen, was passiert und warum es passiert. Als Strategie empfiehlt sie, zunächst verschiedene Geschlechtsidentitäten sichtbar zu machen und zu empowern, um dann – so ihre These – die Kategorien überflüssig zu machen. Zu dieser Strategie gehören auch Geschlechterquoten als radikales Mittel der Gleichberechtigung.
Das Internet sieht sie als bedeutenden Ort für den Backlash. Daher ist die Demokratisierung des Internets einer der wichtigsten Ansatzpunkte für Veränderungen. Die Regeln des Internets seien zutiefst undemokratisch und würden von fünf reichen Männern aus dem Silicon Valley gemacht. Ihre Forderung lautet daher, „es braucht Regulierung und Regeln!“
Es braucht mehr Schulung und Sensibilisierung von Richter*innen, Polizist*innen und eine bessere finanzielle Absicherung der Frauenhäuser und der Beratungsstellen.
Gewalt muss faktisch gestoppt und geahndet werden. Die Täter müssen beschämt werden, nicht die Frauen. Männer müssen stärker in den Fokus kommen und einbezogen werden durch vermehrte Therapieangebote.
Susanne Kaiser schließt mit einem eindringlichen Appell: Gewalt gegen Frauen sollte nicht als „Familien“problem behandelt werden, sondern als Problem der inneren Sicherheit. Antifeminismus ist vor allen Dingen eine Gefahr für unsere Demokratie, geschlechtsspezifische Gewalt erschwert die demokratische, politische und ökonomische Teilhabe der betroffenen Frauen und beeinträchtigt so auch die Qualität unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.
In ihrem Resümee sind sich Referentin und Veranstalterinnen einig: Wenn wir weiterarbeiten wollen an der Stärkung der Demokratie, dann ist die Überwindung der Gewalt gegen Frauen ein unverzichtbarer Beitrag dazu. Alle Menschen haben ein Recht darauf, keine Angst vor Gewalt haben zu müssen, sondern frei und selbstbestimmt in Sicherheit leben zu können.
Anlaufstellen bei geschlechtsspezifischer Gewalt:
Hilfe in Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg
Von häuslicher Gewalt Betroffene sowie ihre Unterstützungspersonen können sich an die lokalen Fachberatungsstellen zu häuslicher und sexualisierter Gewalt wenden.
Die Anlaufstellen bei Gewalt gegen Frauen und Kinder in Darmstadt und Landkreis Darmstadt-Dieburg sind hier aufgeführt: www.darmstadt.de/hilfe
Das Hilfetelefon – Beratung und Hilfe für Frauen
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 116 016 und via Online-Beratung werden Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung unterstützt – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr, in 18 Sprachen, auf Wunsch auch anonym. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten. www.hilfetelefon.de
Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
Dr. Christiane Wessels, Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN
Franziska Wallenta, eaf hessen – Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen, c/o Zentrum Bildung der EKHN
Clara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.
Madalina Draghici, Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt
[1] Bei Dunja Hayali als queere Frau mit Migrationsgeschichte kommen weitere Diskriminierungsmerkmale hinzu.
[2] Incel: „Incels“ steht für „involuntary celibate men“, also für unfreiwillig im Zölibat lebende Männer. Es ist die Selbstbezeichnung einer in den USA entstandenen Internet-Subkultur heterosexueller Männer, die nach Eigenaussage unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr bzw. keine romantische Beziehung haben und der Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit anhängen. Von Incels ausgedrückte Überzeugungen und Gefühle sind geprägt von Misogynie (Frauenfeindlichkeit), dem Anspruch, ein Recht auf Sex zu haben, Selbstmitleid und in Teilen der Billigung und Anwendung von Gewalt gegen Frauen und gegen sexuell aktive Männer. [Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Incel, Stand, 1.3.2024]

Die Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt
Digitale Gewalt ist ein Phänomen, von dem seit einigen Jahren immer mehr Frauen und Mädchen betroffen sind. Was genau darunter zu verstehen ist, wie digitale Gewalt funktioniert, was sie für die Betroffenen bedeutet und was passieren muss, um sie einzudämmen, davon berichtete Professorin Nivedita Prasad am 21.03.2024 in einer Online Veranstaltung.
Mehr als 80 Teilnehmer*innen nahmen an dem zweiten Modul der Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“ teil, die vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN, der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen), dem Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau und dem Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt organisiert wurde.
Das Fallbeispiel
Nivedita Prasad, Professorin für genderspezifische soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin, arbeitet in ihrer Forschung zur Gewalt gegen Frauen eng mit dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) zusammen. An einem realen Fallbeispiel stellt Prasad sehr anschaulich die Parallelen digitaler Gewalt zu analoger Gewalt gegen Frauen dar, aber auch die Besonderheiten: Auf einer Betriebsfeier kommt es zu einem einvernehmlichem Sexualkontakt zwischen zwei (alkoholisierten) befreundeten Kolleg*innen. Der männliche Kollege macht nicht-einvernehmliche Videoaufnahmen, auf denen die Kollegin eindeutig zu erkennen ist. Er zeigt diese Aufnahmen später unter Kolleg*innen herum. Aber erst der fünfte Kollege zeigt sich solidarisch und informiert die betroffene Kollegin. Das Besondere dieser Situation ist, dass der Sexualkontakt zwar einvernehmlich stattfand, dagegen aber nicht das Anfertigen von Aufnahmen noch deren Verbreitung bzw. Herumzeigen. Es gibt Parallelen zu analoger Gewalt: die Scham der Frau, nicht des Täters; das „Victim Blaming“ (sie war betrunken, hat sich mit einem Kollegen eingelassen, auf der Toilette); und unsolidarische Zeug*innen. Prasad weist allerdings auf einen wichtigen Unterschied zu analoger Gewalt hin: „Bei einer Vergewaltigung weiß man, wann es vorbei ist, bei digitaler Gewalt weiß man es nicht, es ist unklar, ob es jemals aufhört und wer vielleicht Kopien besitzt.“ Die Folgen für die Betroffene sind gravierend – Schuld- und Schamgefühle, massive Verunsicherung und psychosomatische Beschwerden.
Wer ist betroffen?
Eine Trennung zwischen digitaler und analoger Gewalt erweise sich häufig als wenig sinnvoll – so Prasad. Denn die meisten Betroffenen im Fall von häuslicher Gewalt würden analoge und digitale Gewalt erleben, sodass diese Differenzierung perspektivisch obsolet sein wird. Geschlechtsspezifische digitale Gewalt im sozialer Nahraum trifft Frauen vor allem, wenn ein Beziehungsbegehren abgelehnt wird oder nach der Beendigung einer Beziehung. Ziel der Täter ist es dann, Macht zu demonstrieren, Frauen zu kontrollieren und einzuschüchtern. Formen digitaler Gewalt sind beispielsweise das Installieren von Spy-Apps, Cyberstalking, das Hacken von Konten oder Deepfaking (hier werden Gesichter von Personen in Pornos hineinmontiert).
Bislang sei die Erfassung digitaler Gewalt allerdings insgesamt noch sehr lückenhaft, und wenn sie erfasst wird, wird oft nicht zwischen verschiedenen Formen differenziert. Dann ist oft nicht eindeutig, ob es sich um anonyme Hate Speech oder digitale Gewalt im sozialen Nahraum handelt. Online Hate Speech findet meist gegenüber (öffentlichen) Personen und/oder Haltungen statt, die sich für die Verbesserung von Lebensbedingungen von marginalisierten Gruppen einsetzen. Zum Beispiel werden Frauen und Transpersonen bei Hate Speech häufig im Kontext ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder -identität angegriffen, rassifizierte Personen werden auch rassistisch angegriffen, behinderte Personen werden auch ableistisch angegriffen. Angriffe potenzieren sich intersektional. Online Hate Speech findet oft anonym statt, aber auch zunehmend in privaten Chatgruppen (Familie, Arbeit, Schule etc.)
Aktuelle Studien zeigen, dass „Alter“ das stärkste Differenzmerkmal ist, mit anderen Worten: je jünger, desto gefährdeter sind Menschen – was wohl auch damit zusammenhängt, dass junge Menschen sehr viel online aktiv sind. Und: Digitale Gewalt kann aktuell noch relativ risikolos verübt werden kann. Die Hoffnung Prasads für kommende Generationen ist, dass sich der rechtsfreie Raum reduziert und durch die Strafbarkeit und Durchsetzung von gesetzlichen Regelungen digitale Gewalt zurückgeht. So können Menschen besser geschützt werden.
Was kann zur Prävention getan werden?
Ratschläge an Frauen, wie zum Beispiel die Sicherheitseinstellungen zu verändern oder sich zumindest zeitweise aus dem digitalen Raum zurückzuziehen, sieht Prasad eher problematisch, denn hier fände eine Täter-Opfer-Umkehr statt.
Nivedita Prasad fordert unter anderem, dass sehr viel mehr Schulungen zur Sensibilisierung und Aufklärung gemacht werden, sowohl bei Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, aber auch bei Strafverfolgungsbehörden und Justiz. Ohnehin sieht sie im straf- und zivilrechtlichen Bereich noch großen Nachholbedarf. Es brauche weitaus mehr Klarheit in der Rechtsprechung und zudem auch spezialisierte Anwält*innen für diese anspruchsvolle Materie. Sie fordert mehr rechtliche Regelungen, welche die Technik begrenzen und zum Beispiel sogenannte Spy Apps oder geräuschloses Fotografieren unmöglich machen. Außerdem seien auch die Plattformbetreiber mehr in die Verantwortung zu nehmen.
Wie das Beispiel am Anfang gezeigt habe, seien die Betroffenen aber auch auf die Solidarität in ihrem Umfeld angewiesen, zum Beispiel durch Familie und Freund*innen, aber auch Kolleg*innen, die nicht wegschauen und Vorgesetzte, die die Täter zur Rechenschaft ziehen.
Ausblick: Im letzten Modul der Online Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“ wechseln wir noch einmal die Perspektive. Nach der Journalistin Susanne Kaiser und der Professorin für Soziale Arbeit Nivedita Prasad wird 16.04.2024, 19:30-21:00 Uhr die Anwältin und Publizistin Asha Hedayti ihre Analyse präsentieren: „Die stille Gewalt an Frauen“.
Hier finden Sie den Download des Sammelbands „Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung“ https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5281-9/geschlechtsspezifische-gewalt-in-zeiten-der-digitalisierung/
Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:Dr. Christiane Wessels, Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHNFranziska Wallenta, eaf hessen – Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen, c/o Zentrum Bildung der EKHNClara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.Madalina Draghici, Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt

Die stille Gewalt gegen Frauen
Zum Abschluss der Online-Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“ hat die Rechtsanwältin und Publizistin Asha Hedayati über ihre langjährige Berufserfahrung an Familiengerichten erzählt und welche Gewalterfahrungen Frauen nicht nur während einer Beziehung machen, sondern wie sich diese beim Gang durch die staatlichen Institutionen fortsetzt.
Knapp 100 Teilnehmer*innen nahmen am 16.04.2024 an diesem letzten Abend teil, der vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN, der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen), dem Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau und dem Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt organisiert wurde.
Maria und die Folgen wirtschaftlicher Gewalt
Asha Hedayati praktiziert seit mehr als zehn Jahren als Anwältin für Familienrecht in Berlin. In dieser Zeit hat sie unzählige Mandant*innen begleitet, vor allem in Scheidungs-, Kindschafts- und Gewaltschutzverfahren. Eine dieser Mandantinnen ist Maria, die eigentlich anders heißt. Maria lernte in der Ausbildung mit Mitte 20 ihren Freund kennen. Da er eine große Wohnung hatte, zogen sie bereits nach einem halben Jahr zusammen. Nach dem Umzug veränderte sich sein zu Anfang so liebevolles und aufmerksames Verhalten, er wurde immer kontrollierender und isolierte sie von Familie und Freund*innen. Sein Verhalten wirkte sich auch auf Marias Gesundheit aus, sie war häufig krank und verpasste Zeit während der Ausbildung, sie dachte über eine Trennung nach, hoffte aber gleichzeitig, dass die schöne Anfangszeit wieder zurückkommen würde. Außerdem hätte sie nicht gewusst, wo sie hingehen sollte, wenn sie sich trennen würde, da er (bisher) keine physische Gewalt angewendet hatte, erschien ihr ein Frauenhaus nicht als Option. An dieser Stelle wies Hedayati explizit darauf hin, dass physische Gewalterfahrungen keine Voraussetzung für eine Aufnahme in ein Frauenhaus sind.
Kurz vor Ende ihrer Ausbildung wurde Maria ungeplant schwanger und die Beziehungssituation eskalierte weiter. Ihr Partner drohte ihr, sollte sie es wagen sein Kind abzutreiben. Im fünften Monat der Schwangerschaft wurde er erstmals auch körperlich gewalttätig. Jede Frustration ließ er an Maria aus, Stress im Job, Ärger über das schreiende Baby, Unzufriedenheit damit, wie sie den Haushalt organisierte. Weil Maria wusste, dass sie sich in Teilzeit als Alleinerziehende keine Miete leisten könnte und von Armut bedroht wäre, blieb sie trotzdem bei ihm. Der Kipppunkt kam, als ihr knapp 2-jähriges Kind versuchte, sie vor der Gewalt seines Vaters zu schützen – sie packte ihr Kind und ein paar Sachen und ging in ein Frauenhaus.
Unbezahlte Care-Arbeit als Fehler des Systems
Maria zeigt exemplarisch für zahllose Frauen, wie sehr die Gesellschaft darauf angewiesen ist, dass Menschen – meist Frauen – zuhause unbezahlte Care-Arbeit übernehmen. Und wie wenig ihnen das gedankt wird, gerade dann, wenn das Leben aus der Bahn gerät. Die Gesellschaft und der Staat sind darauf angewiesen, dass es eine funktionierende Kernfamilie gibt, in der viel Care-Arbeit unentgeltlich verrichtet wird, sonst ist eine Vollbeschäftigung für die meisten Menschen gar nicht denkbar, besonders mit Kindern. Oder die private Care-Arbeit wird ausgelagert, meist an weniger privilegierte Frauen, die aus wirtschaftlichen Zwängen heraus keine andere Wahl haben. Betroffen sind oft migrantische Frauen, die mit ihrer Arbeit nicht nur sich selbst, sondern auch noch Kinder oder andere Familienmitglieder in ihren Herkunftsländern unterstützen.
Die Verteilung der Care-Arbeit ist nicht nur Ausdruck einer privaten Entscheidung, sie wird durch strukturelle Zwänge vorgegeben und durch politische Entscheidungen (z.B. Ehegattensplitting) gefördert. Aufgrund dieser Strukturen können sich gewaltbetroffene Frauen, wie Maria, die in Teilzeit in einem systemrelevanten Care-Beruf arbeitet, nicht einfach so trennen, weil sie sich von ihrem Einkommen keine Miete leisten können. Weil sie, wie Hedayati sagt, als alleinerziehende Mutter oft nur die Wahl zwischen Armut und Burn-out haben und am Ende wahrscheinlich beides bekommen. Selbst jede dritte Frau mit einer Vollzeitbeschäftigung kann nach 40 Arbeitsjahren mit nicht einmal 1.000 Euro Rente rechnen. Das sind handfeste Gründe, warum viele, gerade ältere Frauen, in gewaltvollen Beziehungen bleiben, oder warum fast alle von Hedayatis Mandant*innen mehrere Anläufe brauchen, um sich zu trennen – Gründe, die meist unsichtbar bleiben.
Kann man es als Mutter nur falsch machen?
In Sorge- und Umgangsrechtsprozessen wird Partnerschaftsgewalt von Familiengerichten kaum berücksichtigt. Es wird eine künstliche Trennung zwischen der Partnerschaftsebene und der Elternebene konstruiert und von den Müttern erwartet, dass sie sofort wieder in der Lage sein sollen den Umgang, und die damit verbundene Übergabe des Kindes, an den Ex-Partner zu ermöglichen. Können sie das nicht, kann ihnen das als Kindeswohlgefährdung ausgelegt werden. Genauso wie eine zu kleine Wohnung, in der das Kind keinen ausreichenden Rückzugsraum hat. Und genauso wie das Verbleiben in einer gewaltsamen Beziehung, da das Erleben von Gewalt zwischen den Eltern, natürlich ebenfalls das Wohl des Kindes gefährdet. Der Kindeswohlbegriff ist dabei nicht ausreichend definiert und es gilt oft die Regelvermutung, dass das Kind schnellstmöglich wieder zu beiden Elternteilen Kontakt haben soll. Hedayati plädiert dafür, diese Regelvermutung bei Anhaltspunkten für häusliche Gewalt abzuschaffen.[1]
Das institutionelle Schweigen
Zu oft schweigen staatliche Institutionen wie Gerichte, Polizei oder Jugendämter zu Gewalt gegen Frauen, was diese Gewalt stützt und verstärkt. Die wirtschaftliche Gewalt und Abhängigkeit wurden an Marias Beispiel deutlich. Dazu kommt, dass Behörden und Gerichte die Gewalt oft fortsetzen, und zwar durch Täter-Opfer-Umkehr oder eine Verantwortungsverschiebung, die einseitig zu Lasten der Frauen und Mütter geht. Mit der 2018 in Deutschland in Kraft getretenen Istanbul-Konvention gibt es eigentlich einen guten Werkzeugkasten, um Gewalt gegen Frauen zu begegnen, allerdings wird sie mangelhaft umgesetzt.
Hedayatis Erfahrung aus der Praxis ist, dass es vielfach an Wissen und nötigen Fort- und Weiterbildungen fehlt. Wenn es immer noch Richter*innen gibt, die gar nicht wissen, dass es die Istanbul-Konvention gibt und was sie beinhaltet, ist es wenig verwunderlich, dass ihre Standards nicht angewendet werden. Generell fehlt es an der nötigen Sensibilität für verschiedene Gewaltformen und den Umgang mit Betroffenen. Neben der fehlenden Rechtsumsetzung gibt es allerdings auch echten Nachbesserungsbedarf, etwa die Definition des „Kindeswohls“ oder die rechtliche Schlechterstellung von Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft oder eigenständigen Aufenthaltstitel[2].
Hoffnung und Utopie
Zum Abschluss blickt Hedayati noch einmal kritisch auf die Wahrnehmung von Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Für viele sei Gewalt gegen Frauen schon so normal geworden, dass ihr Fehlen geradezu als eine Utopie erscheine. Mit dem mantraartigen Wiederholen statistischer Opferzahlen werde sie quasi als gegeben hingenommen. Die Einrichtung von mehr Frauenhausplätzen sei zwar wichtig, aber „noch wichtiger ist es, in echte Prävention zu investieren“, so Hedayati. Die Verantwortung für Gesundheit und Leben von Frauen dürfe nicht von engagierten Initiativen und Einzelpersonen abhängig sein, vielmehr müssten die Strukturen und Entscheidungsträger*innen in die Verantwortung genommen werden. Zumal Deutschland gerne auf andere Länder verweist, in denen Frauen nichts ohne ihre Männer tun und entscheiden dürfen, um sich der vermeintlichen eigenen Gleichstellung zu versichern. Doch wie ehrlich kann das sein, wenn auch in Deutschland Frauen nicht vor patriarchaler Gewalt geschützt werden und ihnen Teilhabe und Freiheit nicht möglich sind?
Trotzdem und trotz aller Erfahrungen in ihrem Beruf hat Asha Hedayati Hoffnung: „Es gibt wenig, was so hoffnungsstiftend ist, wie gewaltbetroffene Personen auf dem Weg aus ihrer Beziehung heraus zu begleiten und zu sehen, wie sie sich verändern und aufblühen.“ Außerdem nimmt sie wahr, dass das mediale und öffentliche Interesse steigt und auch wieder stärker über Gewalt gegen Frauen debattiert werde, auch das gibt ihr Hoffnung für die Zukunft.
Informationen
Asha Hedayati – Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen alleinlässt, Rowohlt Polaris 2023
Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt. Ein interdisziplinärer Online-Kurs: https://haeuslichegewalt.elearning-gewaltschutz.de/ wurde von mehreren Teilnehmer*innen empfohlen
Studie zum Familienrecht von Dr. Wolfgang Hammer, wichtige Punkte zu mütterfeindlichen Praktiken an Familiengerichten bereits im Factsheet: https://www.familienrecht-in-deutschland.de/studie/
Zu Väterrechtlern und ihren Argumentationen und Strategien: https://correctiv.org/aktuelles/haeusliche-gewalt/2023/09/19/die-netzwerke-der-vaeterrechtler/
Anlaufstellen bei geschlechtsspezifischer Gewalt:
Hilfe in Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg
Von häuslicher Gewalt Betroffene sowie ihre Unterstützungspersonen können sich an die lokalen Fachberatungsstellen zu häuslicher und sexualisierter Gewalt wenden.
Die Anlaufstellen bei Gewalt gegen Frauen und Kinder in Darmstadt und Landkreis Darmstadt-Dieburg sind hier aufgeführt: www.darmstadt.de/hilfe
Das Hilfetelefon – Beratung und Hilfe für Frauen
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 116 016 und via Online-Beratung werden Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung unterstützt – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr, in 18 Sprachen, auf Wunsch auch anonym. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten. www.hilfetelefon.de
Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
Dr. Christiane Wessels, Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHNFranziska Wallenta, eaf hessen – Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen, c/o Zentrum Bildung der EKHNClara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.Madalina Draghici, Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt
[1] Eine möglicherweise positive Veränderung deutet sich in einem aktuellen Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums an, hier heißt es u.a.: „Bei Partnerschaftsgewalt soll ein gemeinsames Sorgerecht regelmäßig ausscheiden. Es soll klargestellt werden, dass das Familiengericht den Umgang beschränken oder ausschließen kann, wenn dies erforderlich ist, um eine konkrete Gefährdung des betreuenden Elternteils durch einen gewalttägigen Ex-Partner abzuwenden.“
[2] Bei Eheschließungen, in denen nur eine Person die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, besteht für die nicht-deutsche Partei erst nach drei Jahren Ehe und Zusammenleben Anspruch auf einen eigenständigen Aufenthaltstitel. Zwar besteht die Möglichkeit von Härtefallanträgen bei häuslicher Gewalt, deren Ausgang ist jedoch stets ungewiss. Dies führt, verstärkt durch Sprachbarrieren und finanzieller Abhängigkeit, oft dazu, dass Betroffene unter solchen Umständen in einer gewaltvollen Ehe bleiben.

Maybe Baby: Was heißt eigentlich Mutter sein heute?
Termin: 23. September 2024, 18 – 20 Uhr online
Die Podiumsdiskussion „Maybe-Baby – Was heißt eigentlich Mutter sein heute?“ wurde von Clara Böhme und Franziska Wallenta moderiert. Sie begrüßten das Publikum und stellten das Projekt vor, das sich an FLINTA*-Personen richtet, um ihnen Raum für die Reflexion und Diskussion zum Thema Kinderwunsch zu geben. Es ging um Fragen wie die Entscheidung, ob man ein Kind haben möchte, die gesellschaftliche Mehrfachbelastung von Müttern und alternative Familienformen.
Auf dem digitalen Podium saßen vier Expertinnen: Stevie Schmiedel, feministische Medienkritikerin, Wiebke Schenter, Content Creatorin und Bloggerin über feministische Mutterschaft, Heik Zimmermann, Sexualtherapeutin und Leiterin eines Trans-Kompetenzzentrums, sowie Anna Manon Schimmel, Pfarrerin und Mutter. Jede brachte ihre individuelle Perspektive zum Thema ein.
Wiebke Schenter sprach darüber, wie sie offen über ihre Erfahrungen mit regretting motherhood berichtet. Sie erklärte, dass viele Frauen mit der Mutterschaft hadern, auch wenn sie ihre Kinder lieben. Es sei immer noch ein Tabu, diese Gefühle zu äußern. Heik Zimmermann sprach über die Herausforderungen queerer Eltern, die strukturell oft benachteiligt werden. Vor allem bei rechtlichen Fragen wie dem Abstammungsrecht und der Reproduktionsmedizin gibt es immer noch viele Hürden.
In der Diskussion wurde deutlich, dass das Bild der Mutter in der Gesellschaft stark von traditionellen Rollen geprägt ist. Viele Mütter fühlen sich durch die Erwartungen überlastet, sei es durch die ungerechte Verteilung der Care-Arbeit oder den Druck, das Familienmodell zu verkörpern, das von der Gesellschaft erwartet wird. Gleichzeitig wurden positive Beispiele von alternativen Familienmodellen genannt. So berichtete Anna Manon Schimmel von ihrem Leben als Wochenendmutter und dem Kampf um Akzeptanz für ihre unkonventionelle Familienstruktur.
Ein zentraler Punkt war die Frage nach der Sprache: Stevie Schmiedel plädierte für die Einführung geschlechtsneutraler Begriffe wie „Elternteil“ im juristischen und verwaltungstechnischen Kontext. Dies würde nicht nur queeren Eltern, sondern auch anderen Familienformen mehr Raum geben und traditionelle Geschlechterrollen aufbrechen.
Die Diskussion drehte sich auch um die Frage, wie Kirche und Gesellschaft Mütter und Familien besser unterstützen können. Anna Manon Schimmel wies darauf hin, dass es auch in der Kirche noch viele traditionelle Erwartungen an Frauen gibt, aber gleichzeitig ein Wandel stattfindet. Formate, die den Austausch zwischen Generationen und die Unterstützung von Frauen ohne Kinder fördern, wurden vorgestellt.
Am Ende wurden konkrete Ratschläge gegeben: Frauen sollten sich erlauben, offen über ihre Zweifel und Unsicherheiten zu sprechen, ob sie Kinder haben möchten oder nicht. Heik Zimmermann betonte, dass es keine richtige oder falsche Entscheidung gibt, sondern dass es wichtig ist, in den eigenen Bedürfnissen und Wünschen Klarheit zu finden.
Die Podiumsdiskussion bot eine breite und differenzierte Perspektive auf das Thema Mutterschaft und zeigte auf, dass es heute mehr denn je notwendig ist, über traditionelle Rollenbilder hinauszudenken und Platz für vielfältige Lebensentwürfe zu schaffen.
