Backlash – neue Gewalt gegen Frauen

Gibt es eine neue Gewalt gegen Frauen? Diese Frage beantwortet die Journalistin und Buchautorin Susanne Kaiser auf einer Online Veranstaltung am 22.2.2024 ganz klar mit JA.

Mehr als 100 Teilnehmer*innen hatten sich eingefunden zu der vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN, der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen), dem Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau und dem Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt organisierten Veranstaltung. Die Teilnehmer*innen deckten das weite Spektrum der Institutionen ab, die mit der Thematik Gewalt gegen Frauen befasst sind: Frauenhäuser, Frauen- und Gleichstellungsbüros, Beratungsstellen, Mitarbeitende in der Familienbildung, frauenpolitische Initiativen und die Polizei.

Patriarchale Gewalt als Reaktion auf den Machtverlust

Verändert haben sich die Gruppe der Betroffenen und die Formen von Gewalt. Höhere Bildungsabschlüsse, ökonomische und politische Erfolge schützen entgegen der landläufigen Meinung nicht vor Gewalt: Es sind gerade erfolgreiche Frauen, die besonders von Gewalt betroffen sind. Beispiele sind Annalena Baerbock, Ricarda Lang oder auch Dunja Hayali[1], die Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt sind, auch Claudia Neumann, die als Fußballkommentatorin eine „Männerdomäne“ besetzt.

Hier spielt die Frage des angenommenen Machtverlusts eine wichtige Rolle: „Wenn du privilegiert bist, dann fühlt sich Gleichberechtigung wie Unterdrückung an“ sagt die Autorin. Gewalt ist eine Reaktion auf den Machtverlust, den Männer allein durch den Diskurs um Gleichberechtigung und die Norm erleben. Durch das Internet haben Frauen und Minderheiten mehr Sichtbarkeit und ein Sprachrohr bekommen, was die Machtrolle und den Status von Männern bedroht. Im Bereich von Macht und Status stellt Gleichberechtigung für Männer tatsächlich einen Machtverlust dar, oder ist ein Nullsummenspiel, auch wenn sie in anderen Bereichen durchaus von Gleichberechtigung profitieren. Es sei, so Kaiser „das Problem mit der Norm, die nicht mehr so selbstverständlich männlich, weiß, cis, hetero ist, durch die Erosion entsteht ein Vakuum. Und das wird mit Gewalt gefüllt. Denn Diversität und Vielfalt kann per Definition keine Norm sein.“

„Das Internet ist ein Gamechanger, der die Sphären, in denen Gewalt stattfindet, miteinander koppelt“

Wie sich einige Männer in der Politik gegenüber Frauen verhalten oder wie Beziehungen zwischen den Geschlechtern im Netz dargestellt werden, all das hat einen starken Effekt auf den privaten Bereich. Die Ausübung von Gewalt, insbesondere körperliche Gewalt, wird zunehmend banalisiert, normalisiert und fließt ein in den Alltag und wirkt prägend vor allem bei Jugendlichen.

Radikales Gedankengut, zu dem Susanne Kaiser früher noch im Darknet und speziellen Incel[2]-Foren recherchiert hat, ist inzwischen in den Mainstream übergeschwappt. Radikalere Vorstellungen werden denkbarer, sagbarer und salonfähiger. In verschwörungsideologischen Zeiten ist Feminismus eine Projektionsfläche geworden für eine Verschwörung gegen die Gesellschaft. Der Feminismus verweichliche unsere Gesellschaft, trage bei zum sogenannten großen Austausch und letztlich dem Untergang der weißen Mehrheitsgesellschaft – so die Behauptung.

Drei Ziele neuer Gewalt gegen Frauen macht Susanne Kaiser aus: Kontrolle über Frauen aufrechterhalten oder zurückerlangen, Frauen auf ihren Körper reduzieren und Frauen verdrängen.

Für das Verdrängen aus dem öffentlichen Raum nennt Susanne Kaiser zwei sehr prägnante Beispiele: Das Frauenhaus ist ein wichtiger Schutzort für Frauen. Gleichzeitig ist es ein Fluchtort, der auf keinen Fall bekannt werden darf, um die Sicherheit nicht zu gefährden. Dadurch werden die Frauen anonymisiert und aus ihrem gewohnten Umfeld verdrängt, sie tragen die Konsequenzen, nicht der Täter. Oft bleibt damit auch die Gewalt, die sie erfahren haben, nicht sichtbar, so Susanne Kaiser.

Die Kontrolle über den Körper der Frau wird nicht zuletzt auch über die Einschränkung der reproduktiven Selbstbestimmung ausgeübt. Aktuell zeigt sich dies in den USA, wo das von der Verfassung garantierte Abtreibungsrecht rückgängig gemacht wird. Reproduktion und Schwangerschaftsabbruch sind ein Thema in rechten Kreisen, mit der Zielsetzung über Biologismus, und die Betonung angeblich „natürlicher“ Aufgaben und Kompetenzen einen gesellschaftlichen Rollback zu erreichen.

Gewalt gegen Frauen als ein Angriff auf die Demokratie

Was ist zu tun, um diese Dynamik, diesen Backlash zu durchbrechen? Kaiser geht davon aus, dass wir noch viel mehr gute Analysen zum Thema Geschlechterverhältnisse und Geschlechterdifferenzen brauchen, um zu verstehen, was passiert und warum es passiert. Als Strategie empfiehlt sie, zunächst verschiedene Geschlechtsidentitäten sichtbar zu machen und zu empowern, um dann – so ihre These – die Kategorien überflüssig zu machen. Zu dieser Strategie gehören auch Geschlechterquoten als radikales Mittel der Gleichberechtigung.

Das Internet sieht sie als bedeutenden Ort für den Backlash. Daher ist die Demokratisierung des Internets einer der wichtigsten Ansatzpunkte für Veränderungen. Die Regeln des Internets seien zutiefst undemokratisch und würden von fünf reichen Männern aus dem Silicon Valley gemacht. Ihre Forderung lautet daher, „es braucht Regulierung und Regeln!“

Es braucht mehr Schulung und Sensibilisierung von Richter*innen, Polizist*innen und eine bessere finanzielle Absicherung der Frauenhäuser und der Beratungsstellen.

Gewalt muss faktisch gestoppt und geahndet werden. Die Täter müssen beschämt werden, nicht die Frauen. Männer müssen stärker in den Fokus kommen und einbezogen werden durch vermehrte Therapieangebote.

Susanne Kaiser schließt mit einem eindringlichen Appell: Gewalt gegen Frauen sollte nicht als „Familien“problem behandelt werden, sondern als Problem der inneren Sicherheit. Antifeminismus ist vor allen Dingen eine Gefahr für unsere Demokratie, geschlechtsspezifische Gewalt erschwert die demokratische, politische und ökonomische Teilhabe der betroffenen Frauen und beeinträchtigt so auch die Qualität unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.

In ihrem Resümee sind sich Referentin und Veranstalterinnen einig: Wenn wir weiterarbeiten wollen an der Stärkung der Demokratie, dann ist die Überwindung der Gewalt gegen Frauen ein unverzichtbarer Beitrag dazu. Alle Menschen haben ein Recht darauf, keine Angst vor Gewalt haben zu müssen, sondern frei und selbstbestimmt in Sicherheit leben zu können.


Anlaufstellen bei geschlechtsspezifischer Gewalt:

Hilfe in Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg
Von häuslicher Gewalt Betroffene sowie ihre Unterstützungspersonen können sich an die lokalen Fachberatungsstellen zu häuslicher und sexualisierter Gewalt wenden.
Die Anlaufstellen bei Gewalt gegen Frauen und Kinder in Darmstadt und Landkreis Darmstadt-Dieburg sind hier aufgeführt: www.darmstadt.de/hilfe

Das Hilfetelefon – Beratung und Hilfe für Frauen
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 116 016 und via Online-Beratung werden Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung unterstützt – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr, in 18 Sprachen, auf Wunsch auch anonym. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten. www.hilfetelefon.de

Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
Dr. Christiane Wessels, Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN
Franziska Wallenta, eaf hessen – Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen, c/o Zentrum Bildung der EKHN
Clara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.
Madalina Draghici, Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt


[1] Bei Dunja Hayali als queere Frau mit Migrationsgeschichte kommen weitere Diskriminierungsmerkmale hinzu.

[2] Incel: „Incels“ steht für „involuntary celibate men“, also für unfreiwillig im Zölibat lebende Männer. Es ist die Selbstbezeichnung einer in den USA entstandenen Internet-Subkultur heterosexueller Männer, die nach Eigenaussage unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr bzw. keine romantische Beziehung haben und der Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit anhängen. Von Incels ausgedrückte Überzeugungen und Gefühle sind geprägt von Misogynie (Frauenfeindlichkeit), dem Anspruch, ein Recht auf Sex zu haben, Selbstmitleid und in Teilen der Billigung und Anwendung von Gewalt gegen Frauen und gegen sexuell aktive Männer. [Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Incel, Stand, 1.3.2024]

Die Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt

Digitale Gewalt ist ein Phänomen, von dem seit einigen Jahren immer mehr Frauen und Mädchen betroffen sind. Was genau darunter zu verstehen ist, wie digitale Gewalt funktioniert, was sie für die Betroffenen bedeutet und was passieren muss, um sie einzudämmen, davon berichtete Professorin Nivedita Prasad am 21.03.2024 in einer Online Veranstaltung.

Mehr als 80 Teilnehmer*innen nahmen an dem zweiten Modul der Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“ teil, die vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN, der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen), dem Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau und dem Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt organisiert wurde.

Wer ist betroffen?
Eine Trennung zwischen digitaler und analoger Gewalt erweise sich häufig als wenig sinnvoll – so Prasad. Denn die meisten Betroffenen im Fall von häuslicher Gewalt würden analoge und digitale Gewalt erleben, sodass diese Differenzierung perspektivisch obsolet sein wird. Geschlechtsspezifische digitale Gewalt im sozialer Nahraum trifft Frauen vor allem, wenn ein Beziehungsbegehren abgelehnt wird oder nach der Beendigung einer Beziehung. Ziel der Täter ist es dann, Macht zu demonstrieren, Frauen zu kontrollieren und einzuschüchtern. Formen digitaler Gewalt sind beispielsweise das Installieren von Spy-Apps, Cyberstalking, das Hacken von Konten oder Deepfaking (hier werden Gesichter von Personen in Pornos hineinmontiert).

Bislang sei die Erfassung digitaler Gewalt allerdings insgesamt noch sehr lückenhaft, und wenn sie erfasst wird, wird oft nicht zwischen verschiedenen Formen differenziert. Dann ist oft nicht eindeutig, ob es sich um anonyme Hate Speech oder digitale Gewalt im sozialen Nahraum handelt. Online Hate Speech findet meist gegenüber (öffentlichen) Personen und/oder Haltungen statt, die sich für die Verbesserung von Lebensbedingungen von marginalisierten Gruppen einsetzen. Zum Beispiel werden Frauen und Transpersonen bei Hate Speech häufig im Kontext ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder -identität angegriffen, rassifizierte Personen werden auch rassistisch angegriffen, behinderte Personen werden auch ableistisch angegriffen. Angriffe potenzieren sich intersektional. Online Hate Speech findet oft anonym statt, aber auch zunehmend in privaten Chatgruppen (Familie, Arbeit, Schule etc.)

Aktuelle Studien zeigen, dass „Alter“ das stärkste Differenzmerkmal ist, mit anderen Worten:  je jünger, desto gefährdeter sind Menschen – was wohl auch damit zusammenhängt, dass junge Menschen sehr viel online aktiv sind. Und: Digitale Gewalt kann aktuell noch relativ risikolos verübt werden kann. Die Hoffnung Prasads für kommende Generationen ist, dass sich der rechtsfreie Raum reduziert und durch die Strafbarkeit und Durchsetzung von gesetzlichen Regelungen digitale Gewalt zurückgeht. So können Menschen besser geschützt werden.

Was kann zur Prävention getan werden?
Ratschläge an Frauen, wie zum Beispiel die Sicherheitseinstellungen zu verändern oder sich zumindest zeitweise aus dem digitalen Raum zurückzuziehen, sieht Prasad eher problematisch, denn hier fände eine Täter-Opfer-Umkehr statt.

Nivedita Prasad fordert unter anderem, dass sehr viel mehr Schulungen zur Sensibilisierung und Aufklärung gemacht werden, sowohl bei Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, aber auch bei Strafverfolgungsbehörden und Justiz. Ohnehin sieht sie im straf- und zivilrechtlichen Bereich noch großen Nachholbedarf.  Es brauche weitaus mehr Klarheit in der Rechtsprechung und zudem auch spezialisierte Anwält*innen für diese anspruchsvolle Materie. Sie fordert mehr rechtliche Regelungen, welche die Technik begrenzen und zum Beispiel sogenannte Spy Apps oder geräuschloses Fotografieren unmöglich machen. Außerdem seien auch die Plattformbetreiber mehr in die Verantwortung zu nehmen.

Wie das Beispiel am Anfang gezeigt habe, seien die Betroffenen aber auch auf die Solidarität in ihrem Umfeld angewiesen, zum Beispiel durch Familie und Freund*innen, aber auch Kolleg*innen, die nicht wegschauen und Vorgesetzte, die die Täter zur Rechenschaft ziehen.

Ausblick: Im letzten Modul der Online Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“ wechseln wir noch einmal die Perspektive. Nach der Journalistin Susanne Kaiser und der Professorin für Soziale Arbeit Nivedita Prasad wird 16.04.2024, 19:30-21:00 Uhr die Anwältin und Publizistin Asha Hedayti ihre Analyse präsentieren: „Die stille Gewalt an Frauen“.

Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:Dr. Christiane Wessels, Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHNFranziska Wallenta, eaf hessen – Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen, c/o Zentrum Bildung der EKHNClara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.Madalina Draghici, Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt

Die stille Gewalt gegen Frauen

Zum Abschluss der Online-Reihe „Die (neue) Gewalt gegen Frauen“ hat die Rechtsanwältin und Publizistin Asha Hedayati über ihre langjährige Berufserfahrung an Familiengerichten erzählt und welche Gewalterfahrungen Frauen nicht nur während einer Beziehung machen, sondern wie sich diese beim Gang durch die staatlichen Institutionen fortsetzt.

Knapp 100 Teilnehmer*innen nahmen am 16.04.2024 an diesem letzten Abend teil, der vom Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHN, der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen (eaf hessen), dem Verband der Ev. Frauen in Hessen und Nassau und dem Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt organisiert wurde.

Maria und die Folgen wirtschaftlicher Gewalt

Asha Hedayati praktiziert seit mehr als zehn Jahren als Anwältin für Familienrecht in Berlin. In dieser Zeit hat sie unzählige Mandant*innen begleitet, vor allem in Scheidungs-, Kindschafts- und Gewaltschutzverfahren. Eine dieser Mandantinnen ist Maria, die eigentlich anders heißt. Maria lernte in der Ausbildung mit Mitte 20 ihren Freund kennen. Da er eine große Wohnung hatte, zogen sie bereits nach einem halben Jahr zusammen. Nach dem Umzug veränderte sich sein zu Anfang so liebevolles und aufmerksames Verhalten, er wurde immer kontrollierender und isolierte sie von Familie und Freund*innen. Sein Verhalten wirkte sich auch auf Marias Gesundheit aus, sie war häufig krank und verpasste Zeit während der Ausbildung, sie dachte über eine Trennung nach, hoffte aber gleichzeitig, dass die schöne Anfangszeit wieder zurückkommen würde. Außerdem hätte sie nicht gewusst, wo sie hingehen sollte, wenn sie sich trennen würde, da er (bisher) keine physische Gewalt angewendet hatte, erschien ihr ein Frauenhaus nicht als Option. An dieser Stelle wies Hedayati explizit darauf hin, dass physische Gewalterfahrungen keine Voraussetzung für eine Aufnahme in ein Frauenhaus sind.

Kurz vor Ende ihrer Ausbildung wurde Maria ungeplant schwanger und die Beziehungssituation eskalierte weiter. Ihr Partner drohte ihr, sollte sie es wagen sein Kind abzutreiben. Im fünften Monat der Schwangerschaft wurde er erstmals auch körperlich gewalttätig. Jede Frustration ließ er an Maria aus, Stress im Job, Ärger über das schreiende Baby, Unzufriedenheit damit, wie sie den Haushalt organisierte. Weil Maria wusste, dass sie sich in Teilzeit als Alleinerziehende keine Miete leisten könnte und von Armut bedroht wäre, blieb sie trotzdem bei ihm. Der Kipppunkt kam, als ihr knapp 2-jähriges Kind versuchte, sie vor der Gewalt seines Vaters zu schützen – sie packte ihr Kind und ein paar Sachen und ging in ein Frauenhaus.

Unbezahlte Care-Arbeit als Fehler des Systems

Maria zeigt exemplarisch für zahllose Frauen, wie sehr die Gesellschaft darauf angewiesen ist, dass Menschen – meist Frauen – zuhause unbezahlte Care-Arbeit übernehmen. Und wie wenig ihnen das gedankt wird, gerade dann, wenn das Leben aus der Bahn gerät. Die Gesellschaft und der Staat sind darauf angewiesen, dass es eine funktionierende Kernfamilie gibt, in der viel Care-Arbeit unentgeltlich verrichtet wird, sonst ist eine Vollbeschäftigung für die meisten Menschen gar nicht denkbar, besonders mit Kindern. Oder die private Care-Arbeit wird ausgelagert, meist an weniger privilegierte Frauen, die aus wirtschaftlichen Zwängen heraus keine andere Wahl haben. Betroffen sind oft migrantische Frauen, die mit ihrer Arbeit nicht nur sich selbst, sondern auch noch Kinder oder andere Familienmitglieder in ihren Herkunftsländern unterstützen.

Die Verteilung der Care-Arbeit ist nicht nur Ausdruck einer privaten Entscheidung, sie wird durch strukturelle Zwänge vorgegeben und durch politische Entscheidungen (z.B. Ehegattensplitting) gefördert. Aufgrund dieser Strukturen können sich gewaltbetroffene Frauen, wie Maria, die in Teilzeit in einem systemrelevanten Care-Beruf arbeitet, nicht einfach so trennen, weil sie sich von ihrem Einkommen keine Miete leisten können. Weil sie, wie Hedayati sagt, als alleinerziehende Mutter oft nur die Wahl zwischen Armut und Burn-out haben und am Ende wahrscheinlich beides bekommen. Selbst jede dritte Frau mit einer Vollzeitbeschäftigung kann nach 40 Arbeitsjahren mit nicht einmal 1.000 Euro Rente rechnen. Das sind handfeste Gründe, warum viele, gerade ältere Frauen, in gewaltvollen Beziehungen bleiben, oder warum fast alle von Hedayatis Mandant*innen mehrere Anläufe brauchen, um sich zu trennen – Gründe, die meist unsichtbar bleiben.

Kann man es als Mutter nur falsch machen?

In Sorge- und Umgangsrechtsprozessen wird Partnerschaftsgewalt von Familiengerichten kaum berücksichtigt. Es wird eine künstliche Trennung zwischen der Partnerschaftsebene und der Elternebene konstruiert und von den Müttern erwartet, dass sie sofort wieder in der Lage sein sollen den Umgang, und die damit verbundene Übergabe des Kindes, an den Ex-Partner zu ermöglichen. Können sie das nicht, kann ihnen das als Kindeswohlgefährdung ausgelegt werden. Genauso wie eine zu kleine Wohnung, in der das Kind keinen ausreichenden Rückzugsraum hat. Und genauso wie das Verbleiben in einer gewaltsamen Beziehung, da das Erleben von Gewalt zwischen den Eltern, natürlich ebenfalls das Wohl des Kindes gefährdet. Der Kindeswohlbegriff ist dabei nicht ausreichend definiert und es gilt oft die Regelvermutung, dass das Kind schnellstmöglich wieder zu beiden Elternteilen Kontakt haben soll. Hedayati plädiert dafür, diese Regelvermutung bei Anhaltspunkten für häusliche Gewalt abzuschaffen.[1]

Das institutionelle Schweigen

Zu oft schweigen staatliche Institutionen wie Gerichte, Polizei oder Jugendämter zu Gewalt gegen Frauen, was diese Gewalt stützt und verstärkt. Die wirtschaftliche Gewalt und Abhängigkeit wurden an Marias Beispiel deutlich. Dazu kommt, dass Behörden und Gerichte die Gewalt oft fortsetzen, und zwar durch Täter-Opfer-Umkehr oder eine Verantwortungsverschiebung, die einseitig zu Lasten der Frauen und Mütter geht. Mit der 2018 in Deutschland in Kraft getretenen Istanbul-Konvention gibt es eigentlich einen guten Werkzeugkasten, um Gewalt gegen Frauen zu begegnen, allerdings wird sie mangelhaft umgesetzt.

Hedayatis Erfahrung aus der Praxis ist, dass es vielfach an Wissen und nötigen Fort- und Weiterbildungen fehlt. Wenn es immer noch Richter*innen gibt, die gar nicht wissen, dass es die Istanbul-Konvention gibt und was sie beinhaltet, ist es wenig verwunderlich, dass ihre Standards nicht angewendet werden. Generell fehlt es an der nötigen Sensibilität für verschiedene Gewaltformen und den Umgang mit Betroffenen. Neben der fehlenden Rechtsumsetzung gibt es allerdings auch echten Nachbesserungsbedarf, etwa die Definition des „Kindeswohls“ oder die rechtliche Schlechterstellung von Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft oder eigenständigen Aufenthaltstitel[2].

Hoffnung und Utopie

Zum Abschluss blickt Hedayati noch einmal kritisch auf die Wahrnehmung von Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Für viele sei Gewalt gegen Frauen schon so normal geworden, dass ihr Fehlen geradezu als eine Utopie erscheine. Mit dem mantraartigen Wiederholen statistischer Opferzahlen werde sie quasi als gegeben hingenommen. Die Einrichtung von mehr Frauenhausplätzen sei zwar wichtig, aber „noch wichtiger ist es, in echte Prävention zu investieren“, so Hedayati. Die Verantwortung für Gesundheit und Leben von Frauen dürfe nicht von engagierten Initiativen und Einzelpersonen abhängig sein, vielmehr müssten die Strukturen und Entscheidungsträger*innen in die Verantwortung genommen werden. Zumal Deutschland gerne auf andere Länder verweist, in denen Frauen nichts ohne ihre Männer tun und entscheiden dürfen, um sich der vermeintlichen eigenen Gleichstellung zu versichern. Doch wie ehrlich kann das sein, wenn auch in Deutschland Frauen nicht vor patriarchaler Gewalt geschützt werden und ihnen Teilhabe und Freiheit nicht möglich sind?

Trotzdem und trotz aller Erfahrungen in ihrem Beruf hat Asha Hedayati Hoffnung: „Es gibt wenig, was so hoffnungsstiftend ist, wie gewaltbetroffene Personen auf dem Weg aus ihrer Beziehung heraus zu begleiten und zu sehen, wie sie sich verändern und aufblühen.“ Außerdem nimmt sie wahr, dass das mediale und öffentliche Interesse steigt und auch wieder stärker über Gewalt gegen Frauen debattiert werde, auch das gibt ihr Hoffnung für die Zukunft.

Informationen

Asha Hedayati – Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen alleinlässt, Rowohlt Polaris 2023

Dieser Rückblick wurde erstellt von den Veranstalterinnen:
Dr. Christiane Wessels, Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildung der EKHNFranziska Wallenta, eaf hessen – Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie Hessen, c/o Zentrum Bildung der EKHNClara Böhme, Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V.Madalina Draghici, Frauenbüro der Wissenschaftsstadt Darmstadt


[2] Bei Eheschließungen, in denen nur eine Person die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, besteht für die nicht-deutsche Partei erst nach drei Jahren Ehe und Zusammenleben Anspruch auf einen eigenständigen Aufenthaltstitel. Zwar besteht die Möglichkeit von Härtefallanträgen bei häuslicher Gewalt, deren Ausgang ist jedoch stets ungewiss. Dies führt, verstärkt durch Sprachbarrieren und finanzieller Abhängigkeit, oft dazu, dass Betroffene unter solchen Umständen in einer gewaltvollen Ehe bleiben.

Maybe Baby: Was heißt eigentlich Mutter sein heute?

Termin: 23. September 2024, 18 – 20 Uhr online
Die Podiumsdiskussion „Maybe-Baby – Was heißt eigentlich Mutter sein heute?“ wurde von Clara Böhme und Franziska Wallenta moderiert. Sie begrüßten das Publikum und stellten das Projekt vor, das sich an FLINTA*-Personen richtet, um ihnen Raum für die Reflexion und Diskussion zum Thema Kinderwunsch zu geben. Es ging um Fragen wie die Entscheidung, ob man ein Kind haben möchte, die gesellschaftliche Mehrfachbelastung von Müttern und alternative Familienformen.

Auf dem digitalen Podium saßen vier Expertinnen: Stevie Schmiedel, feministische Medienkritikerin, Wiebke Schenter, Content Creatorin und Bloggerin über feministische Mutterschaft, Heik Zimmermann, Sexualtherapeutin und Leiterin eines Trans-Kompetenzzentrums, sowie Anna Manon Schimmel, Pfarrerin und Mutter. Jede brachte ihre individuelle Perspektive zum Thema ein.

Wiebke Schenter sprach darüber, wie sie offen über ihre Erfahrungen mit regretting motherhood berichtet. Sie erklärte, dass viele Frauen mit der Mutterschaft hadern, auch wenn sie ihre Kinder lieben. Es sei immer noch ein Tabu, diese Gefühle zu äußern. Heik Zimmermann sprach über die Herausforderungen queerer Eltern, die strukturell oft benachteiligt werden. Vor allem bei rechtlichen Fragen wie dem Abstammungsrecht und der Reproduktionsmedizin gibt es immer noch viele Hürden.

In der Diskussion wurde deutlich, dass das Bild der Mutter in der Gesellschaft stark von traditionellen Rollen geprägt ist. Viele Mütter fühlen sich durch die Erwartungen überlastet, sei es durch die ungerechte Verteilung der Care-Arbeit oder den Druck, das Familienmodell zu verkörpern, das von der Gesellschaft erwartet wird. Gleichzeitig wurden positive Beispiele von alternativen Familienmodellen genannt. So berichtete Anna Manon Schimmel von ihrem Leben als Wochenendmutter und dem Kampf um Akzeptanz für ihre unkonventionelle Familienstruktur.

Ein zentraler Punkt war die Frage nach der Sprache: Stevie Schmiedel plädierte für die Einführung geschlechtsneutraler Begriffe wie „Elternteil“ im juristischen und verwaltungstechnischen Kontext. Dies würde nicht nur queeren Eltern, sondern auch anderen Familienformen mehr Raum geben und traditionelle Geschlechterrollen aufbrechen.

Die Diskussion drehte sich auch um die Frage, wie Kirche und Gesellschaft Mütter und Familien besser unterstützen können. Anna Manon Schimmel wies darauf hin, dass es auch in der Kirche noch viele traditionelle Erwartungen an Frauen gibt, aber gleichzeitig ein Wandel stattfindet. Formate, die den Austausch zwischen Generationen und die Unterstützung von Frauen ohne Kinder fördern, wurden vorgestellt.

Am Ende wurden konkrete Ratschläge gegeben: Frauen sollten sich erlauben, offen über ihre Zweifel und Unsicherheiten zu sprechen, ob sie Kinder haben möchten oder nicht. Heik Zimmermann betonte, dass es keine richtige oder falsche Entscheidung gibt, sondern dass es wichtig ist, in den eigenen Bedürfnissen und Wünschen Klarheit zu finden.

Die Podiumsdiskussion bot eine breite und differenzierte Perspektive auf das Thema Mutterschaft und zeigte auf, dass es heute mehr denn je notwendig ist, über traditionelle Rollenbilder hinauszudenken und Platz für vielfältige Lebensentwürfe zu schaffen.